Eisenhart: S04-Fan mit Handicap beim Ironman auf Hawaii

3,86 Kilometer Schwimmen, 180,2 Kilometer Radfahren, 42,195 Kilometer Laufen. Palkowski, den alle Welt nur „Palle“ nennt, kann es selbst kaum fassen: „Vor dem Unfall war ein Ironman für mich so weit weg wie eine Mondlandung.“ Ein bisschen Pöhlen mit Freunden, ab und zu in die Muckibude. Das muss reichen. Bis der 22. Dezember 1998 alles verändert.

Als der Patient aus der Narkose aufwacht, eröffnet ihm eine Physiotherapeutin, dass er ab sofort streng auf seine Ernährung achten oder sich sehr viel bewegen müsse, um sein Gewicht zu halten und die Stabilität zu entwickeln, die der Alltag mit einer Prothese erfordert. „Aber auf Pommes-Currywurst und Bier kann ich nicht verzichten“, gesteht er. „Blieb also nur der Sport.“

Der Gelsenkirchener ist ein pragmatischer Mensch und immer bester Laune. Nicht so in den ersten Tagen nach der Amputation: „Du bist Ende 20, stehst voll im Saft. Und plötzlich bist du behindert. Das schüttelt niemand einfach ab.“ Familie und Freunde ziehen ihn aus dem mentalen Loch – und schleppen ihn ins Parkstadion. Den Ort, wo er die schönsten Stunden seines alten Lebens verbracht hat.

„Erst Zaunkarte, später Dauerkarte, dann Vielfahrer. Das volle Programm“, erzählt Palkowski. Bei seiner Rückkehr in die geliebte Betonschüssel sieht er jedoch nicht Königsblau, sondern das Pokalhalbfinale zwischen Rot-Weiß Oberhausen und Bayern München (1:3). Noch auf Krücken begegnet er nach Abpfiff im Aufzug Aleksandar Ristic. „Junge, was hast du denn gemacht?“, fragt der RWO-Coach. Trockene Antwort: „Ausgerutscht.“

In Momenten wie diesem spüren seine Freunde, dass er sein Schicksal angenommen hat. Mit dem Unfall hadert Stefan Palkowski nur noch selten, obwohl ihn Phantomschmerzen stetig daran erinnern und er selbst es war, der die Unglücks-Lok mit den Waggons per Funkfernbedienung gesteuert hat. Er schult in der damaligen Ruhr Oel GmbH vom Chemiefacharbeiter zum Speditionskaufmann um. Und er befolgt den Rat der Expertin: Neben Tauchen und Snowboarden stellt er sich mit seiner Alltagsprothese im Fitnessstudio aufs Laufband und schafft 2008, natürlich in Gelsenkirchen, seinen ersten Marathon. Damals noch mit Schmerzen im Bein, ehe eine Spezialprothese die Probleme behebt.

Mehr als 20-mal bewältigt der Athlet anschließend die 42,195 Kilometer (Bestzeit: 3:43 Stunden), dreht als Solofahrer auf dem Mountainbike mehrmals seine Runden beim 24-Stunden-Rennen in Duisburg und startet bei ersten Triathlon-Wettkämpfen über die Kurzdistanz, „obwohl ich wie ein nasser Sack schwimme“. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Und doch bezwingt Palkowski beim „Ostsee-Man“ und im vergangenen Jahr in Roth die Königsdisziplin der Triathleten: die Langdistanz. Dafür trainiert er zehn bis zwölf Stunden pro Woche, Wechselschicht sei dank.

Vor dem mächtigen Ironman auf Hawaii hat er trotzdem gehörigen Bammel. Das Rennen gilt in der Szene als größte Herausforderung: immense Hitze und starke Winde, die nicht selten so drehen, dass sie einem auf den Wendepunktstrecken dauerhaft ins Gesicht blasen. Der deutsche Profi Patrick Lange hat 2018 bei günstigen Bedingungen als erster Athlet die Acht-Stunden-Marke unterboten. Palkowski, der einen von nur fünf Plätzen für Handicap-Starter bekommen hat, peilt eine Zeit unter 13 Stunden an – bis er Anfang September in seinem Haus das Dachfenster schließen will. Er stürzt und poltert zwölf Stufen hinunter. Dabei erleidet er nicht nur schwere Prellungen, sondern bricht sich auch den kleinen Finger der rechten Hand: Operation unumgänglich.

Der Hawaii-Start sei kaum zu schaffen, prophezeien die Ärzte, weil Palkowski mit den Drähten in der Hand eigentlich weder Schwimmen noch Fahrradfahren darf. Da kennen sie seinen Kampfgeist schlecht. Selbst die Nachricht, dass er ein zweites Mal unters Messer muss, weil der Knochen nicht vernünftig zusammengewachsen ist, stoppt ihn nicht. „Ob ich jetzt operiert werde oder drei Wochen später, ist doch egal. Solange der Knochen sich nicht durch die Haut drückt, ziehe ich das durch“, erklärt Palkowski und steigt mit Freundin Susanne in den Flieger.

Im Koffer: sein blau-weißer Rennanzug. Ein 400 Euro teures Unikat, das der 49-Jährige selbst gestaltet hat. Mit viel Liebe zum Detail. Neben dem Gelsenkirchener Stadtwappen sowie den Logos von Schalke 04 und Supporters Club ziert die Brust: „Auf Kohle geboren“. Darunter stehen die Namen aller Gelsenkirchener Zechen. Auf dem Rücken lugt aus der Tasche für Sportgels der stilisierte Hals einer Bierflasche hervor: „Das konnte ich mir nicht verkneifen …“

Der Anzug trägt Palkowski auf Hawaii ins Ziel. Doch der Mann in Königsblau muss leiden. Während Jan Frodeno bei seinem dritten WM-Sieg einen neuen Streckenrekord aufstellt (7:51,13 Stunden), ist er mehr als doppelt so lange unterwegs: 15:56,37 Stunden. Beim Schwimmen nimmt er nicht die Ideallinie, um dem Gedränge zu entfliehen und seinen gebrochenen Finger zu schützen. Auf dem Rad fährt er wie befürchtet fast konstant gegen den Wind, richtig kämpfen muss er jedoch erst beim abschließenden Marathon. „Nach fünf Kilometern habe ich gemerkt, dass die Laufprothese am Knie aufscheuert“, erzählt Palkowski, der mit sich ringt: aufgeben oder durchziehen?

Der Schalker entscheidet sich dafür, so lange zu laufen wie irgendwie möglich. Er quält sich Meter für Meter durch die Lavawüste und stoppt aus Versehen auch noch seine Uhr. „Zum Glück konnte ich mithilfe der Sonne grob errechnen, dass ich bis zum Veranstaltungsende nach 17 Stunden genug Zeit habe.“ Palkowski legt Gehpausen ein. Lebensgefährtin Susanne und zwei Freunde aus Gelsenkirchen begleiten ihn auf den letzten nullvier Kilometern aus der Dunkelheit in die Stadt, lassen zur Motivation auf dem Handy das Steigerlied laufen und jubeln wie die Zuschauer im Zielbereich, als Palkowski die Worte hört, von denen jeder Triathlet träumt: „Palle, you are an Ironman!“

Ob er all die Qualen erträgt, um sich etwas zu beweisen? Weil er sich von seinem Handicap nicht unterkriegen lassen will? „Vielleicht ist da was dran“, meint Palkowski. „Sicher ist, dass ich den Sport und das Leben seit dem Unfall viel intensiver genieße.“

Schalke 04 gehört für ihn immer dazu. Den Ironman-Erfolg hat er mit seinen Freunden vom Fanclub „Letzte Reihe 3“ und vom Supporters Club während der Fahrt zum Pokalduell bei Arminia Bielefeld gebührend gefeiert. Proviant hatte er bereits bestellt: Pizza Hawaii!

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Der Text ist ursprünglich im Schalker Kreisel #3 der aktuellen Saison erschienen.

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Source: © Feed by Schalke04.de

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