Sascha Jusufi: Das Phantom

Der Sommer 1991 ist historisch. Am 1. Juli wird das osteuropäische Militärbündnis Warschauer Pakt aufgelöst, im Radio läuft der Megahit „Wind of Change“ von den Scorpions, und Schalke ist gerade wieder in die Bundesliga aufgestiegen. Es herrscht Aufbruchstimmung, auch bei Zugang Sascha Jusufi. Der damals 28-Jährige, Sohn des früheren S04-Trainers Fahrudin Jusufi, der 2019 verstarb, ist für rund eine Million D-Mark Ablöse vom Hamburger SV gewechselt und bis in die Zehenspitzen motiviert.

„Als ich damals in Gelsenkirchen ankam, habe ich mich richtig gefreut, endlich wieder Fußball spielen zu können“, erinnert sich der heute 57-Jährige im Gespräch mit dem Schalker Kreisel. Die vergangenen sieben HSV-Monate hat Jusufi nach einem Zwist mit Chef-Trainer Gerd-Volker Schock auf der Tribüne verbracht. „Umso schöner, dass Schalkes damaliger Coach Aleks Ristic, der in Hamburg lange unser Co-Trainer gewesen war, mich unbedingt verpflichten wollte. Auch ich hatte richtig Bock darauf“, betont er. „Schalke war ja seit jeher mein Verein. Dort hatte ich schon in der Jugend sehr erfolgreich mit Jungs wie Wolfram Wuttke, Michael Opitz, Harry Kügler oder Volker Abramczik gespielt. Auch über den Fußball hinaus hatte ich noch viele Freunde in Gelsenkirchen.“

Doch während des Sommer-Trainingslagers wird der Mittelfeldspieler rustikal ausgebremst: Es ist die sechste Testpartie – an den Gegner erinnert er sich heute nicht mehr, dafür aber an diesen schmerzhaften Schlag von hinten auf das Standbein. Die Beschwerden im Fersenbereich und in der Wade erweisen sich als hartnäckig. „Ich kam danach nicht mehr richtig auf die Beine“, erzählt er: „Und ich war bei allen namhaften Ärzten: in Gelsenkirchen, bei Professor Klümper in Freiburg, bei Dr. Müller-Wohlfahrt in München. Niemand konnte die genaue Ursache meiner Beschwerden ermitteln.“

Der Saisonstart rückt derweil unaufhaltsam näher und ist eigentlich wie gemalt für Jusufi: ein Heimspiel gegen seinen Ex-Club Hamburger SV. Nach diversen Spritzen riskiert er einige Wochen nach dem verhängnisvollen Tritt trotz Schmerzen die Rückkehr ins Mannschaftstraining. „Die erste Einheit am Vormittag verlief auch noch ganz gut. Aber dann, gleich zu Beginn der zweiten Runde am Nachmittag, ist mir die komplette Achillessehne durchgerissen – nicht mit einem Knall, sondern schmerzhaft langsam.“ Jusufis rechter Fuß hängt schlaff herunter, die Mannschaftskollegen stehen entsetzt daneben.

Yves Eigenrauch fährt den Verletzten ins Krankenhaus, wo bald darauf die ganze Wahrheit zum Vorschein kommt: „Die Sehne hatte wohl bereits durch das Foul im Testspiel einen Längsriss erlitten und war danach nicht wieder richtig zusammengewachsen“, berichtet Jusufi. „Als die Ärzte schließlich hineinschauten, fanden sie jede Menge abgestorbenes Gewebe. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, die Sehne wäre gleich komplett durchgerissen. Dann hätte man das umgehend operiert, und alles wäre gut geworden.“

Doch nichts wird gut, so sehr Sascha Jusufi nach der OP auch kämpft. Monatelang schindet er sich, auf Schalke und in der Praxis des Düsseldorfer Reha-Gurus Bernd Restle. Doch Jusufi schafft kein Comeback – nicht vor Weihnachten, nicht nach der Winterpause, nicht im Frühjahr. Nie mehr. Ein knappes Jahr nach dem Achillessehnenriss gibt er endgültig auf. Eine Rückkehr in die Bundesliga ist zu diesem Zeitpunkt völlig unvorstellbar. Zudem endet bald die Zwölfmonatsfrist für die Beantragung der Sportinvalidität. „Der Verein kam auf mich zu und wollte wissen, was Sache ist.“ Schalke ist gegen eine Invalidität von Jusufi versichert – in Höhe der für ihn gezahlten Ablösesumme.

Wenn dir so was passiert, ist das natürlich eine harte Schule fürs Leben.

Sascha Jusufi

„Für mich selbst ging es am Ende eigentlich nur noch darum, dass ich halbwegs fit für den Alltag werde und vor allem: schmerzfrei“, verrät Jusufi, der mit seinem Verletzungspech in die traurigen Niederungen der königsblauen Vereinshistorie eingegangen ist: als Schalker Profi, der heute in keiner Pflichtspielstatistik zu finden ist. „Das war Murphy’s Law vom Feinsten“, meint der Familienvater rückblickend. „Wenn dir so was passiert, ist das natürlich eine harte Schule fürs Leben. Aber das musst du aushalten.“ Ebenso wie die Tatsache, dass der Name Jusufi unter Schalkern bis heute als Synonym für verhexte Transfers gilt: Als Neuankömmling Ozan Kabak in der Vorbereitung auf die aktuelle Saison bereits am zweiten Trainingstag eine heftigere Fußblessur ereilte, fürchtete manch Kulturpessimist in den Kommentarleisten des Internets bereits den „nächsten Jusufi“.

Dabei reicht die gemeinsame Geschichte von Schalke und Sascha Jusufi viel weiter zurück und bietet durchaus erfreuliche Episoden: Es ist das Jahr 1978, als die Familie aus Österreich an den Schalker Markt zieht. Vater Fahrudin, ein ehemaliger jugoslawischer Nationalspieler, erhält eine Anstellung als Co-Trainer unter S04-Coach Ivica Horvat. Sascha, ein viel gepriesenes Talent, ist 15 Jahre jung und kickt in der blau-weißen B-Jugend. „Im Schalker Nachwuchs wurde auch damals schon super gearbeitet“, lobt er. „Wir haben regelmäßig um die Westfalenmeisterschaft gespielt, besonders die Derbys gegen Borussia Dortmund waren Highlights.“ Als A-Jugendlicher erreicht Jusufi sogar zweimal in Folge das Finale um die Deutsche Meisterschaft: 1980 unterliegen die Knappen unglücklich mit 1:2 dem SV Waldhof Mannheim, 1981 mit 0:4 dem VfB Stuttgart.

Spätestens seit Anfang 1981 ist klar: Dieses Talent hat das Zeug zum Profi. Doch seine Zukunft sieht der Teenager nicht auf Schalke. „Ich durfte zwar öfter bei den Profis reinschnuppern, wo mein Vater inzwischen Chef-Trainer geworden war. Doch damit war er nicht nur mein größter Förderer, sondern auch ein Hemmschuh für mich.“ Zwar wird Fahrudin Jusufi im Mai 1981 angesichts des nahenden Schalker Bundesliga-Abstiegs beurlaubt, doch sein Sohn steht vor einem anderen Hindernis: „Ich war damals noch kein deutscher, sondern jugoslawischer Staatsbürger. Und zu dieser Zeit waren nur zwei Ausländer pro Verein erlaubt.“

Während Schalke den Wiederaufstieg in der Saison 1981/1982 mit dem Ausländerduo Dragan Holcer (Jugoslawien) und Ilyas Tüfekci (Türkei) forciert, zieht es Jusufi zum Zweitligarivalen Bayer 05 Uerdingen – mit dem er zwei Jahre später Schalkes zweiten Bundesliga-Abstieg besiegeln wird. Das Gelsenkirchener Parkstadion platzt an jenem schicksalhaften 19. Juni 1983 aus allen Nähten, für Königsblau geht es um alles. Die 1:3-Hinspielniederlage liegt nur vier Tage zurück, und Sascha Jusufi überzeugt in beiden Duellen restlos. Zwar schießt Manni Drexler Königsblau nach gut einer Stunde mit 1:0 in Führung, doch kurz vor Schluss gelingt Uerdingens Michael Schuhmacher der Treffer zum 1:1-Endstand. Schalke ist zweitklassig. Schon wieder.

„Das passte wie die Faust aufs Auge“, berichtet Jusufi aus seiner Gefühlswelt an jenem surrealen Tag: „Da schaffst du mit Uerdingen den Sprung in die Relegation und triffst ausgerechnet auf den Verein, für den dein Herz schlägt. Das war hart, und ich habe bis heute nicht vergessen, wie gespenstisch die Stimmung damals war.“ In der riesigen Schüssel sind nur noch die rund 1000 Uerdinger Schlachtenbummler zu hören. „Für mich und meinen Mannschaftskollegen Matthias Herget, ein gebürtiger Gelsenkirchener, war an jenem Tag definitiv eine Portion Wehmut dabei. Wir wohnten zu diesem Zeitpunkt beide in der Stadt: Matthias in Buer, ich in Schalke. Und dann passiert so was.“

Ein Jahr später verlässt er die Heimat. Beim 1. FC Saarbrücken ebnet er sich zwischen 1984 und 1986 den Weg zu seiner erfolgreichsten Station in Hamburg. In seiner ersten Spielzeit an der Elbe wird Jusufi unter Trainerlegende Ernst Happel DFB-Pokalsieger. Auch im Finale gegen die Stuttgarter Kickers (3:1) mischt er von der ersten Minute an mit. „Ich habe beim HSV – wie bei eigentlich all meinen Vereinen – mindestens 30 Spiele pro Saison absolviert, habe im Europapokal gespielt und eine tolle Zeit verlebt.“ Nur der letzte Akt gerät zum Desaster: ein 1:6 ge gen Bayern München am 11. Spieltag der Saison 1990/1991. Kurz darauf folgt die Suspendierung. Und dann Schalke.

Da schaffst du mit Uerdingen den Sprung in die Relegation und triffst ausgerechnet auf den Verein, für den dein Herz schlägt.

Sascha Jusufi

„Ich habe zunächst nach einer Wohnung für mich und meine Familie gesucht und bin nach einiger Zeit in Dorsten fündig geworden“, berichtet Jusufi von seiner Rückkehr ins Revier – und fügt gequält hinzu: „Nur ein Jahr später konnte Jürgen Luginger die Wohnung übernehmen.“ Denn im Sommer 1992 ist Jusufi Sportinvalide, auch wenn ihm seine Versicherung die zuvor ausgehandelte Summe erst nach jahrelangem Gerichtsprozess auszahlen wird. Zum Glück habe er immer so vorgesorgt, dass er finanziell abgesichert war.

An diese letzte Unglückssaison hat er indes keinesfalls nur schlechte Erinnerungen: „Meine Mitspieler waren damals die ganze Zeit über sehr verständnisvoll, wir hatten eine charakterlich richtig tolle Truppe. Ich bin auch immer gern zu den Heimspielen ins Parkstadion gekommen.“ Obwohl es schmerzt, tatenlos auf der Tribüne zu hocken.

„Am Ende hatten wohl alle nur noch Mitleid mit mir“, vermutet Jusufi. Alle, bis auf manchen Journalisten: „Der eine oder andere schrieb damals, ich würde simulieren. Das war natürlich kompletter Blödsinn, zumal es zu dieser Zeit noch keine Garantieverträge gab.“ Soll heißen: Nach sechs Wochen Verletzungspause endeten automatisch die Gehaltszahlungen durch den Verein, und die Berufsgenossenschaft sprang ein, allerdings nur mit einem Bruchteil des Gehalts. „Wer ist denn bitte so blöd und schädigt sich selbst?“

Jusufi, das versichert er, habe derlei Unterstellungen stets an sich abperlen lassen: „Zeitungen verkaufen sich nicht über nüchterne Nachrichten, sondern über Schlagzeilen. Richtig geärgert hat mich nur, dass ich Aleks Ristic nicht helfen konnte, der mich geholt und auf meine Fähigkeiten vertraut hatte.“ Der Coach muss kurz vor Saisonende gehen, weil Schalke wieder im Abstiegsstrudel kämpft. S04-Ikone Klaus Fischer übernimmt und schwimmt sich mit dem Team frei.

Und Sascha Jusufi? Der kehrt dem Fußball im Sommer 1992 den Rücken. In Hamburg schreibt er sich für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre ein. „Eigentlich wollte ich Profi bleiben, bis ich 35 bin“, sagt er heute. „Ich war ja ein Techniker und kein Schrubber, da hätte ich mit Mitte 30 locker noch irgendwo als Libero spielen können.“ Stattdessen findet er sich mit 29 Jahren auf einem harten Klappstuhl im Hörsaal wieder: „Dann sitzt du da frühmorgens um acht und lernst höhere Mathematik. Alle gucken dich an und fragen
sich, was der alte Sack denn hier macht.“

Doch das späte Studium zahlt sich aus. Jusufi arbeitet beim TV-Sender Sat.1 in der Programmdirektion der Bundesliga-Sendung „ran“ und für einen großen deutschen Zeitungsverlag. Mit 40 macht er sich selbstständig und eröffnet seine eigene Marketingagentur in Hamburg. Die betreibt er bis heute erfolgreich. „Das alles wäre mit Sicherheit nicht so gekommen, wenn ich mich damals nicht derart schwer verletzt hätte“, glaubt Jusufi. Mit dem Fußball hat er längst seinen Frieden geschlossen.

Kontakt zu früheren königsblauen Weggefährten hat der 167-malige Bundesliga- und 82-malige Zweitligaspieler bis heute: „Harry Kügler hat mich kürzlich wieder in Hamburg besucht. Bei solchen Gelegenheiten quatschen wir auch über unsere gemeinsamen Jahre in der Jugend und erzählen uns alte Geschichten über Wolfram Wuttke, Charly Neumann und all die anderen von damals. Das ist immer wieder schön.“

Auf seinen verhexten Transfer spricht ihn heute kaum noch jemand an. „Ich glaube, die allermeisten Leute haben das längst vergessen. Ist ja auch schon fast 30 Jahre her.“ In der sagenumwobenen Historie des S04 aber wird das Schalker Phantom Sascha Jusufi ein fester Begriff bleiben.

Schalker Kreisel

Der Text ist ursprünglich im Schalker Kreisel #5 der aktuellen Saison erschienen.

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Source: © Feed by Schalke04.de

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