Anke Hildebrandt hat sich an die vereinseigene Stiftung Schalke hilft! gewandt, ob ihr Mann nicht anlässlich der Aktion „Herzenswünsche“ eine Heimpartie der Königsblauen besuchen dürfe. So ist Thomas gegen den VfB Stuttgart erstmals wieder in der Donnerhalle, seit das Leben ihn aus dem Spiel genommen hat. An einem Februarmorgen 2015 kommt Thomas Herfert kaum in die Gänge. Er qualmt zwar „wie ein Henker“, aber Probleme hat er nie gehabt. Klar, der Bauch ist ein bisschen rund geworden, beim Blick auf die Cholesterinwerte zieht der Hausarzt jedes Mal die Augenbrauen hoch. Aber so was? Als es nicht besser wird, verspricht er seiner Frau: „Morgen gehe ich zum Arzt.“ Anke macht ihm sofort Beine. Wie ein Mediziner ihr später versichern wird, hätte ihr Mann den nächsten Tag sonst nicht mehr erlebt. Hinterwandinfarkt. In der Praxis ist kaum das EKG beendet, da rollt bereits der Notarzt an. Thomas packt der kalte Schweiß, er sieht noch das Wageninnere, dann: Schwarz. Während der Fahrt holen sie ihn ins Leben zurück, Krankenhaus, Operation, Gefäßstützen zur Überbrückung in die Leiste. Bei einem weiteren Check fällt ein Loch im Herzen auf. Zweite Narkose, Flickwerk – vergebens. Auf dem Weg in eine Duisburger Spezialklinik entreißen sie ihn erneut dem Tod.
Aus einem ewig scheinenden Schlaf erwachend, hört er „das hübsche Geräusch hier“, sagt Thomas und schaut auf die Beatbox. Er ist plötzlich sein Herz los. Und hat keinen Schimmer, was passiert ist. Eine kleine Organunterstützung sollte er bekommen. Dachte er. „Als sie mich aufgemacht haben, meinte der Chefarzt dann: ,Das Herz ist so fritte – holt mir mal das Vollsystem!‘“ Wenn der 54-Jährige seine atemraubende Geschichte erzählt, klingt das, als komme er gerade aus der Autowerkstatt: „Die haben alles rausgeschmissen bis auf die Rückwand, dann eine Membran mit Kunstklappen eingesetzt, die meine linke und rechte Herzkammer ersetzen.“ Selbst aus einem Meter Entfernung hört man sie unter dem Trikot stepptanzen. Klick-Klack. Klick-Klack. Klick-Klack. Die Pumpe im Rucksack hält die Klappen durch Druckluft auf Trab. Thomas Herferts Lebensversicherung ist auf exakt 130 Schläge pro Minute getaktet und lässt das im näheren Umkreis jeden wissen. Die 72 Dezibel aus dem Zehn-Kilo-Rucksack entsprechen in etwa dem Lärm eines Staubsaugers.
Schicksalsmelodie: „Solange ich die höre, geht’s mir gut.“ Auf der Intensivstation geht’s ihm schlecht. Eine Ärztin will ihm das System anhand von Fotos veranschaulichen: „Geh weg“, wehrt er ab, „ich will nix davon wissen. Mir reicht, dass hier neben mir was klackert und ich weiß, ich darf nicht mehr duschen.“ Das ist das Schlimmste für ihn. Der sterile Verband auf seinem Bauch, dort, wo der Körper mit den Schläuchen verwächst, darf nicht nasswerden, die Maschine sowieso nicht. „Freedom“, steht auf ihr geschrieben: Freiheit. Was für ein Hohn. Unwahrscheinlich lange dauert es, bis er sich an den Umgang mit seinem neuen Anhang gewöhnt. „Ein einfacher Infarkt hätte mir eigentlich gereicht, um mit dem Rauchen aufzuhören“, meint Thomas. Und dass er als Jugendlicher „RoboCop“ ganz cool fand – halb Mensch, halb Maschine. Aber das sei ja auch nur ein Film gewesen. Und schon gar nicht er selbst. Galgenhumor.
Nach drei Monaten im Klinikbett sind die Beine zu Streichhölzern geschrumpft. In quälender Reha lernt er mühselig wieder das Laufen. Die Tücken seines neuen Alltags schütteln ihn, als es ihm beim Warten im Rollstuhl heiß und fettig wird: Was, wenn die Akkus plötzlich leer sind? Wer der Verzweiflung nahekommt, sobald der Balken im Handydisplay blinkt, kann ja mal versuchen, sich in diese Lage zu versetzen. Zwei Stunden hält ein Maschinen-Akku. Wenn dann keine Steckdose in der Nähe ist – Feierabend.
Thomas Herfert ist in Wanne-Eickel geboren, großgeworden in Gelsenkirchen und später nach Dortmund gezogen, Ankes Heimatstadt. Als er wieder nach Hause kommt, legt das Paar haufenweise Verlängerungskabel kreuz und quer durch die Wohnung, damit das Maschinenherz auch auf jedem Quadratmeter mit Strom gefüttert werden kann. Thomas‘ Seele bleibt im roten Bereich. Einen Monat lang hört seine Frau zu, wie er sich bemitleidet, dann hat sie die Faxen dick: „Sieh zu, dass du mal rauskommst“, bricht es aus ihr raus, „mir reicht’s!“ Sie hat ihm das Leben gerettet, als sie ihn zum Arzt schickte, und strenggenommen hätte sie über seinen Tod walten können. Beide haben vor langer Zeit Patientenverfügungen unterschrieben, weil sie gemeinsam entschieden haben, nicht allein von Maschinen am Leben gehalten werden zu wollen. „Meine Frau hätte das im Krankenhaus beenden können, wenn man ihr die Lage falsch verklickert hätte“, sagt Thomas. Doch es sei ihnen ja ursprünglich darum gegangen, nicht im Bett vor sich hin zu vegetieren. „Und so wie es jetzt ist, kann ich auf ein Spenderherz warten und normal leben.“ Normal. Thomas Herfert meint das, wie er es sagt. Nach der Ansage seiner Frau rappelt er sich auf, nimmt sein Schicksal an, arbeitet wieder als IT-Experte und macht seinen Job wie zuvor von daheim aus. Die Beatbox nehmen sie irgendwann kaum mehr wahr, nicht mal nachts. „Man gewöhnt sich an das Dingen“, erklärt er. „Nur manchmal ist es nervig, weil man den Fernseher so laut machen muss.“ Einkaufen, Spazieren, Fahrradfahren, alles ist zu meistern, sofern Mann es nicht übertreibt. Während das menschliche Herz bei Anstrengung schneller pumpt, bleibt Thomas‘ Taktung bei 130. Ein Warnsystem ist aber inklusive. Als er mal versuchte, einen Schrank anzuheben, motzte die Maschine lauter als ein Rauchmelder.
Auch Ankes Alarmsystem hat sich eines Tages gemeldet. Die Quittung für die ganze Herzensangelegenheit, weitere Schicksalsschläge in der Patchworkfamilie, den Haushalt, der größtenteils an ihr kleben bleibt. Nachdem sie bei der Arbeit zusammengeklappt ist, befinden beide, ein Job reicht. „Da gibt es schönere Sachen, die man im Leben tun kann“, betont er, und sie wirft ein: „Zum Beispiel zu den Schlümpfen gehen.“ Großes Gelächter.
Mit den Schlümpfen sind die Schalker gemeint. Man ahnt: Anke bevorzugt andere Farben. Umso netter, dass sie ihrem Thomas nicht nur die Tür zum Heimspiel gegen den VfB Stuttgart aufgestoßen hat, sondern ihn auch begleitet. Im Arena-Fanshop investiert sie sogar spontan in ein S04-Shirt. Oben auf der Tribüne lupft sie es kurz an und zeigt auf ihre BVB-Gürtelschnalle. Thomas schmunzelt und hebt die beklebten Anschlüsse seines Schlauchsystems hoch: blau-weiß und schwarz-gelb. Daheim schläft jeder in seiner Vereinsbettwäsche, am alten Auto hingen die Clubfähnchen. Weil das Paar beim neuen Wagen um die Außenspiegel bangte, weht der Stoff nun auf dem Balkon. „Wir können fair mit unserer Rivalität umgehen“, erklärt Thomas, „nur die Weißwürste können wir beide gar nicht leiden“.
Daher hofft der Knappen-Anhänger auf ein 3:0 gegen die Schwaben: „Dann stehen wir vor Bayern.“ Nach Absingen des Vereinslieds zeigt er zur Nordkurve: „In N4 habe ich mit meinem Sohn Tilo gestanden, bevor das alles passiert ist. In der ,Nord‘ ist die Stimmung am besten.“ Ins Kurvengedränge würde er sich auch mit seinem Rucksack trauen, aber eine Steckdose ist ihm doch näher als das Gemeinschaftserlebnis. Während des Spiels ist das klotzige Netzteil auf der Tribüne eingestöpselt und lässt die Pferdchen galoppieren. Die Frage sei erlaubt: Wie gesundheitsgefährdend ist so eine Dosis Schalke? Thomas grinst: „Einen Herzinfarkt kann ich ja nicht mehr kriegen…“
Wenn man nicht um seine Geschichte wüsste, der königsblaue Fan würde nicht weiter auffallen. Er spult das komplette Programm ab, von der „Aaattacke!“ über die Bratwurst bis zum Torjubel, der ihn aus der Sitzschale hebt. Er schimpft über den Gegentreffer, schwärmt von Guido Burgstaller und lacht noch immer über die Stadiondurchsage vom Spiel gegen Leipzig, als ein Fahrer sein Auto mit laufendem Motor im Parkhaus zurückgelassen hatte: „Das erlebste nur auf Schalke!“ Das 3:1 reicht am Ende für den Platz vor den Münchenern. Beide Fanlager sind zufrieden. Na ja, Anke etwas weniger. Und wie war sein erstes Mal zurück auf Schalke? – „Ganz einfach: geil!“
Unten in der Arena treffen die „Herzenswünsche“- Gäste nach und nach alle Schalker Spieler und Trainer, die mit Autogrammen verzieren, was ihnen präsentiert wird. Anke wischt über das BVB-Wappen auf dem Handydisplay, fotografiert ihren Mann, sobald ein S04-Profi dessen Trikot signiert, und ätzt: „Mein armes Handy, hoffentlich geht das deswegen nicht kaputt.“ Den Ersatzrucksack mitsamt seiner zehn Kilo Inhalt schleppt sie umher: „Ich sage immer: ‚Wenn du nicht brav bist, nehme ich dir die Akkus weg.“ Beide lachen. Ist Humor ein Weg, mit der Situation umzugehen? – „Es geht nur mit Humor“, entfährt es Thomas. Anke nickt.
Neben Maschinen und Akkus gehen sie nicht ohne geladenes Mobiltelefon aus dem Haus. Falls der eine Anruf kommt. Vom Meister der Herzen: Transplantationsklinik Bad Oeynhausen. Damit Thomas ihn ja nicht überhört, hat seine Frau ihm sogar eine Telefonuhr geschenkt. Wenn es beim Skatkloppen mit den Jungs wieder lauter wird, brummt es wenigstens am Handgelenk. Flüge sind passé, die Urlaubsreise reicht höchstens bis Holland, denn innerhalb von drei Stunden muss Thomas in der Klinik sein können, sobald ein Herz eintrifft. Sein Herz. Sonst fliegt es jemand anderem zu.
Er ist auf der Warteliste nicht in der dringlichsten Kategorie eingestuft, weil die Maschine ja läuft. Anke weiß nicht, was sie ihm wünschen soll: „Geht’s ihm gut wie jetzt, steht er weiter unten. Geht’s ihm scheiße, rutscht er hoch.“ Froh sind sie beide, dass die Medizin heute überhaupt so weit ist. Inzwischen werde bereits ein neues System getestet, weiß Thomas, en detail: „elektrisch, nicht so laut, Induktionsplatte auf der Haut für die Stromversorgung. Das kann sogar im Körper bleiben.“ Er ist sich im Klaren, dass ein Spenderherz mit vielen Risiken verbunden ist: Der Körper könnte es abstoßen, schwere Medikamente schwächen die Abwehr, ein halbes Jahr im Krankenhaus unter Beobachtung. Wenn die neue Technik schon da wäre, er würde es sofort machen. Aber sie ist Zukunftsmusik.
Eine Woche nach der Partie gegen Stuttgart hat Thomas Herfert sich erst mal eine frische Beatbox aus Duisburg abgeholt. Fünf, vielleicht sechs Jahre hält man durch mit so einer Maschine, hat er gelernt. Dann muss eine andere Lösung her, denn die übriggebliebenen Organe leiden. In den USA warten Patienten im Schnitt etwa ein Jahr auf ein Spenderherz, betont der 54-Jährige. Er wünscht sich, dass in Deutschland viel mehr Menschen einen Organspendeausweis im Portemonnaie tragen mögen, um im Ernstfall andere Leben zu retten. Zum Beispiel seins.
Diese Geschichte erschien erstmals im Schalker Kreisel.
Organspende
Die Stiftung Eurotransplant ist verantwortlich für die Zuteilung von Spenderorganen in Deutschland und sieben weiteren europäischen Ländern. 8.730 Menschen standen zum Stichtag Ende 2021 in Deutschland auf der Warteliste für ein Spenderorgan. Davon warteten 727 auf ein neues Herz, die übrigen auf eine Lunge (291), Niere (6.593), Leber (848), oder eine Bauchspeicheldrüse (291). 2.979 Organe wurden vergangenes Jahr bundesweit übertragen, darunter waren 329 Herztransplantationen. Die Anzahl der bundesweiten Organspender ist mit 933 um knapp 2 Prozent gestiegen.
Statistische Angaben: Deutsche Stiftung Organtransplantation
Weitere Informationen auf organspende-info.de
Hier erhalten Sie den Organspendeausweis (organspende-info.de)
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